Demenz bei Erwachsenen: vom Körper her ein Mann, vom Kopf ein Kind
Veröffentlicht am 02.03.2017 • Von Giovanni Mària
Demenz bei Erwachsenen: vom Körper her ein Mann, vom Kopf ein Kind
Erst vergaßen sie Kleinigkeiten. Bald werden sie sich vergessen haben. Eric und Florian eint ein Schicksal: Sie sind jung und dement. Der Filmemacher Walter Krieg hat die beiden für das ZDF begleitet. Seine Aufnahmen gehen unter die Haut.
Florian hat Geburtstag. Freunde und Familienmitglieder sind gekommen um mit ihm zu feiern. Sie stimmen sein Lieblingslied an. "Hoch auf dem gelben Wagen, sitz ich beim Schwager vorn. Vorwärts die Rosse traben, lustig schmettert das Horn." Florian beginnt zu wippen, er ballt die Hände zu Fäusten und hebt sie in die Luft. Auf. Ab. Auf. Ab. Der junge Mann wirkt unbeholfen wie ein kleines Kind. Florian ist 41 Jahre alt und hat Demenz. Er spricht nicht mehr und braucht rund um die Uhr Betreuung.
Rückblende. Filmaufnahmen zeigen Florian als Teenager. Er trägt ein Shirt der Metal-Band Metallica und die Haare lang. Er geht am Strand spazieren, lacht und läuft auf die Kamera zu. "Als Kind und Jugendlicher war er vollkommen normal", sagt die Erzählerstimme im Off. Florian war beliebt, verheiratet, bekam zwei Kinder. Er machte Karriere als Kreisjugendreferent in Pforzheim, baute ein Jugendhaus mit auf. Sein Leben schien perfekt.
Doch ab einem Alter von 37 Jahren beginnt Florian, sich zu verändern. Er wird vergesslich, nachlässig. Von Dienstreisen kommt er ohne Belege zurück. Er stempelt Raucherpausen nicht mehr aus. In Sitzungen legt er merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag. Florian, der Macher, verhielt sich auf einmal "wie ein Kindergartenkind", wird sich sein ehemaliger Chef erinnern. Florian verliert seine Stelle. Und sein gesamtes Umfeld rätselt: Leidet er an einer Depression? Oder ist das Scheitern seiner Ehe der Grund für sein auffälliges Verhalten?
Die Fragen und die Ohnmacht des Umfelds sind die zentralen Drehpunkte der ZDF-Dokumentation "Das große Vergessen" aus der Reihe "37 Grad". Filmemacher Walter Krieg hat dafür zwei junge Männer mit Demenz begleitet und berichtet aus ihrem Alltag: Wie lebt es sich mit der Krankheit? Wie gehen Eltern und Lebenspartner mit der Situation um? Dabei nimmt er nie Wertungen vor, sondern zeichnet die Lebenssituationen der Männer nüchtern nach. "Das große Vergessen" zeigt eindringliche, authentische Bilder, die aus dem Alltag gegriffen sind. Deshalb gehen sie so unter die Haut.
"Der Lebenspartner geht psychisch kaputt"
Eric lebt mit seiner Frau in einem Schweizer Bergdorf. Früher hat er als Maschinenführer im Straßenbau gearbeitet. Heute überfordert es ihn bereits, wenn Wanderer ihn nach dem Weg fragen. "Ich bin froh, wenn ich gerade mal den Weg nach Hause finde", entgegnet er ihnen dann meist. Aufgrund seiner Demenz-Erkrankung kann der 46-Jährige nicht mehr arbeiten. Seine Tage fristet er in der Wohnung, sieht fern, während seine Frau Waltraud im Supermarkt an der Kasse sitzt. "Ich bin von der Statur her ein erwachsener Mann", sagt er. "Aber vom Gehirn her bin ich zwischen 12 und 16 Jahre."
Waltraud sorgt sich um ihren Mann, während sie arbeitet. Sie hat Angst, dass ihm etwas zustößt, wenn er so ganz allein in der Wohnung sitzt. Eric will aber keinen Pflegedienst, er mag das wechselnde Personal nicht, ist schnell überfordert und wird dann laut. Die Demenz wurde bei ihm vor sechs Jahren diagnostiziert. Seitdem macht er sich aber vor allem Sorgen um seine Frau. "Der Demenzkranke, dem macht das nichts aus", sagt er. "Aber die andere Person, der Lebenspartner, geht psychisch kaputt."
Auch Florians Eltern leiden. Die Mutter ist 68, der Vater 73. Eigentlich sind sie längst in Rente, doch müssen sich täglich um ihren Sohn kümmern, zusammen mit zwei Pflegern und Florians Schwester. Immerhin wissen sie nun, an welcher Krankheit ihr Sohn leidet: frontotemporale Demenz. Bei Betroffenen beginnt der Abbau der Nervenzellen des Gehirns zunächst im Stirn- und Schläfenbereich. Dort sitzen die Bereiche, die für Emotionen und Sozialverhalten zuständig sind. Das erklärt Florians auffälliges Verhalten.
"Was sollen wir denn machen? Das ist unser Kind!"
Die Diagnose stand nach einer wahren Odyssee aus Arztbesuchen und Klinikaufenthalten. Zeitweise befand sich Florian in einer geschlossenen Anstalt, da seine Ärzte glaubten, er leide an einer psychischen Krankheit. Florian kam in der fremden Umgebung nicht zurecht, er rebellierte. Seine Pfleger banden ihn fest, um ihn ruhig zu stellen. Seitdem hat Florian Angst, wenn er einen Arzt im weißen Kittel sieht.
Florians Eltern beschlossen, ihren Sohn zu Hause zu pflegen. Ihren Ruhestand hatten sich die pensionierten Lehrer eigentlich anders vorgestellt. Aber: "Was sollen wir denn machen? Das ist unser Kind", sagt seine Mutter. In eine geschlossene Anstalt soll Florian jedenfalls nie wieder kommen. "Wir haben so viele schlechte Erfahrungen gemacht", erklärt sein Vater. "Das lasse ich auf meinen Sohn nicht mehr zukommen."
Wie lässt sich mit dieser ungewissen Zukunft leben? Demenz-Erkrankungen schreiten immer weiter voran. Betroffene vergessen erst Kleinigkeiten, dann ihre Liebsten, dann sich selbst. Dann vergessen sie, zu essen und zu trinken.
Eine Antwort darauf liefert auch der Filmemacher Walter Krieg in seiner Dokumentation nicht. Er kann sie nicht liefern, weil es keine Antwort gibt. Wo Worte fehlen, helfen Bilder. Und so ist es auch die letzte Szene des Films die Schlüsselszene der Dokumentation. Eric steht mit seiner Frau auf dem Balkon ihrer Wohnung und lässt den Blick in die Ferne schweifen. Schneebedeckte Berge, verträumte Berglandschaft. Für einen Moment schließt er die Augen und atmet die Stille. Sie sei Balsam für seinen Kopf, sagt er. Wenn es schon keine Zukunft gibt, dann kann man nur im Hier und Jetzt leben.
stern.de
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