Multiple Sklerose: Hallesche Mediziner erforschen neue Ursache
Veröffentlicht am 27.12.2017 • Von Giovanni Mària
Multiple Sklerose: Hallesche Mediziner erforschen neue Ursache
Schätzungsweise 120.000 Deutsche leiden an Multipler Sklerose - einer Entzündung der Isolierschicht der Nervenbahnen. Seh- und Bewegungsstörungen können die Folge sein. Weit verbreitet ist die These, dass das Immunsystem verrücktspielt, sich gegen den eigenen Körper richtet. Daher gilt Multiple Sklerose auch als sogenannte Autoimmun-Erkrankung. Wissenschaftler in Halle bezweifeln das und halten eine ganz andere Ursache für den Grund der Krankheit.
Es sind Viren, die aus Sicht der Hallenser Schuld an Multipler Sklerose sind. Nicht die Viren, die wir uns am Haltegriff der Straßenbahn einfangen, im Schwimmbad oder während einer Grippewelle. Es sind Viren, deren Bestandteile uns nicht nur krank machen können, sondern die in der Evolution wichtige Funktionen in unseren Zellen übernommen haben. Es sind Viren, ohne die wir uns vermutlich nicht entwickelt hätten, so Holger Cynis vom Fraunhofer Institut für Zelltherapie und Immunologie in Halle. Denn mindestens acht Prozent unseres Erbguts haben viralen Ursprung. Prof. Martin Staege Leiter des Forschungslabors der Kinderklinik an der Uni Halle sagt, dass zigtausende solcher Virusbestandteile in unseren Zellen sind. Irgendwann im Zuge der Evolution haben sie Zugang zu unserem Erbgut gefunden.
"Manche sind schon 100 Millionen Jahre in unserem menschlichen Erbgut. Andere offensichtlich erst vor Zehntausenden Jahren in das Erbgut integriert worden."
Prof. Martin Staege, Leiter des Forschungslabors der Kinderklinik an der Uni Halle
Von den meisten Virusschnipseln in unserer DNA weiß man aber nicht, was sie da so treiben. Von einigen weiß man es dagegen genau. So haben sie z.B. eine wichtige Funktion bei der Ausbildung der Placenta, des Mutterkuchens. Viren müssen also eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Säugetiere gespielt haben. Allerdings hätten wir, wenn die These der Hallenser stimmt, ohne sie auch keine Multiple Sklerose. Denn die Hallenser glauben, dass solche Virusbestandteile im Gehirn von MS-Patienten Entzündungsherde im Gehirn auslösen. Es ist also nicht das Immunsystem, das verrücktspielt und sich irrtümlich gegen den eigenen Körper richtet. Vielmehr haben die Hallenser die Virushüllen in Verdacht, extreme Entzündungsreaktionen auszulösen. Neurologe Prof. Malte Kornhuber, Chefarzt am Helios-Klinikum in Sangerhausen spricht bei diesen Virushüllen von Superantigenen.
"Und diese Superantigeneffekte können eben eine Entzündung auslösen und das ist interessant aus unserer Sicht für das Verständnis von Autoimmunprozessen."
Prof. Malte Kornhuber, Chefarzt am Helios-Klinikum in Sangerhausen
Die Hallenser haben die Virustheorie deshalb aufgegriffen, weil die derzeit akzeptierte Lehrmeinung zu viele Fragen nicht erklären kann. Ein entscheidendes ungeklärtes Problem für die Neurologen Dr. Alexander Emmer und Prof. Malte Kornhuber ist, dass die gängige Lehrmeinung überhaupt nicht erklären kann, warum ein Multiple Sklerose-Herd ohne Entzündung entsteht. Die Entzündung kommt erst später, nachdem sich bereits an derselben Stelle langsam ablaufende Veränderungen gezeigt haben, so Kornhuber. D.h. die Ursache wäre nicht ein außer Kontrolle geratenes Immunsystem, sondern die Aktivierung von Viruspotential, das bisher völlig unbeachtet im Erbgut schlummerte und plötzlich zu heftigen Immunreaktionen führt. Mit dieser These ging Kornhuber ins Fraunhoferinstitut für Zelltherapie und Immunologie zu Holger Cynis.
"Wir hatten davon auch noch nicht gehört und dann haben wir uns die Fachliteratur angeguckt und haben gedacht: Mensch das ist ja ein weites Feld von Erkrankungen, die momentan nicht therapiert werden können, bei denen das also tatsächlich eine Ursache sein könnte."
Holger Cynis, Fraunhofer Institut für Zelltherapie und Immunologie in Halle
Deshalb erforschen Kornhuber, Cynis und Kollegen einen grundsätzlich neuen Behandlungsansatz. Sie überlegen, ob es möglich ist, eine Therapie zu entwickeln, mit der man spezifisch die bei Multipler Sklerose assoziierten Viren stilllegen könnte. Drei Virus-Hüllproteine sind in das Visier der Forscher geraten. Holger Cynis ist dabei, einen Steckbrief von ihnen zu erarbeiten.
"Und das Ziel soll dort sein, therapeutische Antikörper zu entwickeln, die diese Hüllproteine binden und dadurch inaktivieren können."
Holger Cynis
Diese Untersuchungen der Hüllproteine stehen noch ganz am Anfang. Kornhuber und Kollegen verbinden mit dem neuen Ansatz die Hoffnung, dass ein Anfang gemacht ist, um viele Symptome zu erklären, die im Moment unter dem Oberbegriff Autoimmun-Krankheiten laufen.
"Wir glauben, dass das nicht auf Multiple Sklerose beschränkt ist, sondern dass viele solcher Autoimmunerkrankungen wie Gelenkrheuma, Muskelentzündungen, alle möglichen Arten von Nierenentzündungen, von Gefäßentzündungen - also sehr verschiedene Arten von Autoimmunität - auf so einem Mechanismus beruhen könnten."
Prof. Malte Kornhuber
Damit stehen die Hallenser in Deutschland im Moment allein auf weiter Flur. In Frankreich und Dänemark gibt es allerdings noch Wissenschaftler, die ebenfalls die Virusthese bei der Entstehung von Multipler Sklerose teilen. Das Gros der Wissenschaftsgemeinde geht - trotz vieler offener Fragen - weiter von der These einer Autoimmun-Reaktion aus.
mdr.de
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