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ADHS: „Ich konnte irgendwann nicht mehr schlafen, weil mein Kopf so voller Gedanken war.“

Veröffentlicht am 11.01.2023 • Von Bianca Jung

Püppi0909 leidet an ADHS. Nachdem der Verdacht einige Zeit bestand, erhielt sie im Alter von 29 Jahren die endgültige Diagnose. Dank der Hilfe von Kommunikationsstrategien, Umgangsformen, Plänen, einem Psychiater und der Einnahme von Medikamenten kann sie ein weitestgehend normales Leben führen.

Lesen Sie gleich ihre Patientengeschichte!

ADHS: „Ich konnte irgendwann nicht mehr schlafen, weil mein Kopf so voller Gedanken war.“

Hallo Püppi0909, Sie haben sich bereit erklärt, für eine Patientengeschichte mit Carenity zu sprechen, und dafür möchten wir Ihnen danken.

Könnten Sie uns zunächst etwas mehr über sich selbst erzählen?

Ich bin 30 Jahre jung, lebe in Deutschland im ländlichen Hessen. Ich bin ein Mensch, der gerne anderen etwas Gutes tut und gerne neue Dinge beibringt, auch selbst gerne lernt. Ich bin ein sehr ehrgeiziger Mensch. Wenn mich ein Thema interessiert, dann nehme ich das Wissen wie ein Schwamm auf. Ebenso bin ich sehr einfühlsam und verständnisvoll, aber auch schusselig und manchmal etwas übermütig.

Ich liebe die Natur und verbringe gerne Zeit mit meinem Hund im Feld. Gerade an regnerischen Tagen kann ich das Kind in mir kaum halten, seit ich mir Gummistiefel gekauft habe. Jeder sollte ein Paar Gummistiefel haben und sie an Regentagen nutzen. Dann hüpfen mein Hund und ich wie zwei kleine Kinder durch die Pfützen.

Aber ich kann genauso ernst und wütend, aber auch gelassen und ruhig sein. Es kommt immer auf die Situation an und wie man mir begegnet. Negative Erfahrungen versuche ich meist mit Humor zu umgehen. Wenn man sich über etwas durchgehend ärgert, bringt man nur negative Empfindungen mit sich. Dennoch hat jede Emotion ihre Berechtigung. Das ist für mich alles erst seit meiner Diagnose möglich zu verstehen und damit umzugehen.

Sie leiden an einem Aufmerksamkeitsdefizit - mit oder ohne Hyperaktivitätsstörung (ADHS). In welchem Alter wurde die Diagnose gestellt? Wie lange hat es gedauert, bis die Diagnose gestellt wurde? Wie viele Ärzte haben Sie kennengelernt?

Ja, ich habe ADHS. Die Diagnose wurde im Alter von 29 Jahren gestellt. Der Verdacht bestand wohl schon früher, nur hatte es noch keinen Namen. Zumindest für mich. Als Teenager hatte ich schon psychische Probleme. Damals wurde eine Borderline-Persönlichkeit dahinter vermutet. Wegen meiner psychischen Probleme war ich nicht bei vielen Ärzten. Erst als ich an einen Punkt in meinem Leben kam, an dem ich nicht mehr weiter wusste, wandte ich mich an eine Psychologin sowie einige Zeit später an einen Psychiater. Da ich immer müde, erschöpft und unter innerer Unruhe litt, dauerte es nicht lange, bis mein Psychiater den Verdacht das erste Mal äußerte. Doch damals konnte oder wollte ich mich damit noch nicht identifizieren. Ich konnte irgendwann nicht mehr schlafen, weil mein Kopf so voller Gedanken war, dass ich ohne Medikamente kaum mehr zum Schlafen kam. Egal was ich tat, es half nichts. Irgendwann wurde der Leidensdruck dann so groß, dass ich um die ADHS-Testung nicht mehr drum herum kam. Man muss dazu wissen, dass durch die Ausgrenzungserfahrungen die ADHSler machen, diese weniger auf sich achten und sich deshalb auch weniger um ihre Gesundheit kümmern. Dazu kommt die Schwierigkeit, einen Therapeuten oder auch Arzt zu finden, der die Testung durchführen darf. Dort dann einen Termin zu bekommen, ist natürlich auch nicht immer möglich oder nur mit sehr langer Wartezeit. Doch ich hatte Glück und bekam innerhalb von 3 Monaten einen Termin. Die Zeit davor war die Hölle. Doch als dieser Tag da war, war es für mich enorm stressig und schlimm. Ich dachte, ich explodiere. Doch die Therapeutin war enorm einfühlsam und hat mich schnell abgelenkt. Es wurden viele Fragen gestellt, bei denen ich mir dachte: „Oh, das gibt es wohl öfter!“

Die Therapeutin kam mir mit viel Verständnis entgegen und so konnte ich mich ihr gegenüber öffnen. Das erste Mal in meinem Leben habe ich mich ernstgenommen gefühlt. Als sie mir nach 4 Stunden geführter Testung mitteilte, dass ich definitiv ADHS habe, konnte ich gar nicht mehr aufhören zu weinen.

Endlich war ich nicht einfach die immer müde, getriebene und verzweifelte Frau - nein, ich war eine erwachsene Frau mit ADHS, die einfach anders tickt. Bei meinem Psychiater bekam ich dann die entsprechende Aufklärung und auch die begleitende Therapie mit Medikamenten.

Wie sieht Ihr bisheriger Lebensweg aus? Glauben Sie, dass er anders hätte verlaufen können, wenn Sie nicht an ADHS erkrankt wären? Wenn ja, auf welche Weise?

Für mich war schon immer alles sehr anstrengend. Lesen oder Kopfrechnen waren für mich in der Schule die reinste Horrorvorstellung. Heute weiß ich, ich war zu sehr abgelenkt. Wie es vielen Mitbetroffenen auch geht oder ging. Da ich dafür immer getadelt oder sogar ausgelacht wurde, entwickelte ich Strategien, um dies zu kompensieren oder zu umgehen.

Ob mein Leben anders verlaufen wäre, wenn ich kein ADHS gehabt hätte, kann ich so nicht beantworten, denn ADHS kann man nicht einfach bekommen. Es ist eine genetische Veranlagung, eine Neurodivergenz, die man sich nicht einfach aussuchen kann. Ich denke aber, dass grade meine schulische Laufbahn bei einer früheren Entdeckung besser verlaufen wäre. Ich hätte eine ganz andere Auffassungsgabe gehabt und man hätte auch mit mir anders umgehen können. Auch ich hätte mehr Verständnis für meine Denkweisen und Einschränkungen gehabt.

ADHS wird nur schwer diagnostiziert. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Wie wäre es, wenn die Behandlung früher im Leben des Patienten erfolgen könnte?

Ich glaube, dass es daran liegt, dass es zu wenig Aufklärung über ADHS und seine Komorbiditäten gibt. ADHS ist so komplex und hat so viele verschiedene Gesichter und dennoch gibt es viele Parallelen und Ähnlichkeiten. Viele Menschen glauben nicht, dass es solch eine Neurodivergenz gibt. Es gibt viele Ärzte, die nicht an ADHS glauben. Trotz Studien und genetischen Untersuchungen. Dazu kommt, dass man als ADHSler auch auf viel Ablehnung stößt. Allein bei den Medikamenten erlebt man eine große Ablehnung und wird als „Junkie“ hingestellt. Nur weil es unter die Betäubungsmittel fällt und von anderen missbräuchlich verwendet werden kann. Das kann einen ziemlich einschüchtern.

Eine frühere Diagnostik würde vielen Menschen Leid ersparen. Und auch die Aufklärung über ADHS wäre damit mehr verbreitet. Die Stigmatisierung würde hoffentlich abnehmen, denn es gibt noch viele Menschen, die unter einem versteckten ADHS leiden. Auch wenn ich mich mit meinem ADHS sehr wohl fühle, ist es nur mit der richtigen Medikation für mich möglich, dies auch zu genießen.

Man wird klarer und auch ohne Medikation kann man schon ganz anders mit sich und der Welt umgehen. Man bekommt ein besseres Verständnis und kann viel selbstbewusster mit seinen „Macken“ umgehen.

Wie äußert sich ADHS in Ihrem täglichen Leben? Welche Auswirkungen hat es auf Ihr Privat- und Berufsleben?

Jeder Tag ist anders. Ich kann nicht sagen, wie der nächste Tag ist. Es gibt Tage, da bin ich den Tag über richtig gut gelaunt und am nächsten Tag ist alles mies. Meine Aufgabe ist es dann, mich zu mobilisieren und aufzuraffen, gerade an den schlechteren Tagen sehr schwierig. Es kommt auch auf mein Umfeld an und die Geräuschkulissen. Habe ich viel Stress, sind die ADHS-Symptome schlimmer, weil ich weniger fokussiert auf mich sein kann, und dadurch z.B. die Kontrolle über meine Impulsivitätsstörung verliere. Dann kann es passieren, dass ich komplett emotionslos reagiere oder mir die Tränen in die Augen schießen oder ich einmal einen kurzen Schrei los lasse.

Ich muss jeden Tag schauen, dass ich ausreichend esse, genug trinke, mich genug bewege und auch soziale Kontakte habe. Ich muss normale Tätigkeiten wie den Haushalt wirklich zeitlich einplanen. Weil ich mich sonst darin verliere, was man Hyperfokus nennt. Anstatt, wie viele es machen, die Wohnung durchzusaugen und den Boden zu wischen, artet es bei mir aus. Da sehe ich dann Flecken in den Fliesenfugen, die müssen eingeweicht werden und mit einer Zahnbürste geschrubbt werden oder da ist das Laminat leicht beschädigt, da wird dann so lange auf YouTube geschaut, wie man es repariert, dass der Tag schon wieder rum ist.

Das kann schon sehr anstrengend sein, aber seitdem ich weiß, dass es typisch für ADHS ist, kann ich damit auch viel besser umgehen. Und schreibe mir mittlerweile die Sachen auf, die ich extra sehe, und plane auch die Zeit für die Recherche ein. Und so muss ich es mit jeder Tätigkeit machen. Aber es macht mir mittlerweile großen Spaß, da ich immer wieder Neues entdecke und mehr zu mir finde.

Hat ADHS Auswirkungen auf Ihr Sozialleben? Wie sehen Sie die Menschen in Ihrer Umgebung Ihrer Meinung nach?

Ja, hat es. Man lernt früh, dass man anders ist, nicht der Norm entspricht. Dadurch habe ich viele Ausgrenzungserfahrungen gemacht. Aber auch mein Freundeskreis hat mich immer sehr beeinflusst, vor allem in der Pubertät. Darunter befanden sich auch viele toxische Beziehungen, die ich in einigen Jahren Therapie aufgearbeitet und auch mein Fehlverhalten erkannt habe.

Doch durch die Diagnose konnte ich mit diesen schlechten Erfahrungen besser umgehen und habe daraus für mich viel gelernt, vor allem über mich und den Zusammenhang mit ADHS. Für mich selbst ist es manchmal etwas schwierig, mit den Leuten in Kontakt zu bleiben. Nicht, weil ich sie nicht schätze oder nicht gern hätte. Nein, manchmal ist es für mich einfach nicht möglich; ich möchte mich melden und nehme z.B. das Handy in die Hand und dann sehe ich einen Vogel am Fenster vorbei fliegen und schon ist der Gedanke, was ich tun wollte, weg. Wie der Hyperfokus beim Putzen, nur umgekehrt.

Deshalb sage ich Menschen, die ich gerade kennen lerne und mit denen ich mich gut verstehe, dass sie mir in WhatsApp schreiben sollen und, wenn ich länger als einen Tag zum Antworten brauche, sie mir doch bitte eine Erinnerung schicken sollen und mache auch Sonderzeichen aus, die mir die Dringlichkeit der Nachricht näher bringen.

Das ist einfacher für mich und an sich auch für die Person. Denn ich vergesse es niemals mit Absicht, aber manchmal ist mein Kopf zu voll, um die richtigen Prioritäten zu setzen. Und so ein 🎈 ist schnell gesendet. Natürlich erst, nachdem man den wichtigen Text gesendet hat, weil ich sonst ja nicht zuerst den Ballon sehe.

Ich denke die Menschen in meiner Umgebung sehen mich als den fröhlichen, leicht verpeilten, verständnisvollen, manchmal leicht impulsiven und dennoch ruhigen sowie achtsamen (wie ironisch) Menschen, der ich nunmal bin.

Fällt es Ihnen leicht, über ADHS zu sprechen? Verstehen Ihre Angehörigen diese Störung und was sie bedeutet? Unterstützen sie Sie?

Ja, mir fällt es enorm leicht über ADHS zu sprechen. Ja, die meisten meiner Angehörigen verstehen meine Neurodivergenz und auch, was sie im
Umgang mit mir beachten müssen. Wie bereits mit den WhatsApp-Nachrichten erwähnt, haben wir auch hier gewisse Kommunikationstechniken und Umgangsformen entwickelt. Aber ich muss auch sagen, dass die meisten in meinem Umfeld selbst ADHS haben oder bei sich selbst vermuten. Dadurch, dass ich mich so sehr mit ADHS beschäftigt habe und auch den Leuten dadurch mehr Verständnis entgegen bringe, ist alles viel harmonischer geworden und wir unterstützen uns gegenseitig.

Wie sehen Ihre Nachsorge und Betreuung aus? Werden Sie aktuell behandelt? Sind Sie damit zufrieden?

Durch die Medikamenteneinnahme müssen mein Herz per EKG und meine Leberwerte, Cholesterinwerte und Schilddrüsenwerte alle 3 Monate beim Hausarzt untersucht und diese mit meinem Psychiater in einem Gesprächstermin besprochen werden. Dort wird dann gefragt, wie es mir geht, welche äußeren Reize ich derzeit habe, ob Nebenwirkungen bestehen und wie stabil mein psychischer Zustand ist.

Ich habe das Glück, einen guten Psychiater zu haben. Denn auch in akuten Situationen ist er immer erreichbar und unterstützt einen. Ich fühle mich gut aufgehoben. Leider bekomme ich aber oft das Gegenteil berichtet und stelle fest, dass es oft Kommunikationsprobleme zwischen Arzt und Patienten gibt. Ein Arzt kann ja auch nur das beurteilen, was wir ihm mitteilen.

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Da ich aufgrund meiner Einschränkungen mit ADHS in meinen alten Beruf nicht mehr zurück kann, befinde ich mich derzeit in einer Umorientierung. Ich schaue mir zurzeit verschiedene Ausbildungen und berufliche Qualifizierungen an, um meinem Traum näher zu kommen. Denn ich möchte gerne mehr Verständnis und Akzeptanz für neurodivergente Menschen und auch für nicht-neurodivergente Menschen haben.

Was würden Sie Carenity-Mitgliedern raten, die ebenfalls an ADHS leiden?

Befasst euch ein wenig mit der Diagnose. Lest Beiträge, die euch betreffen. Geht in ADHS-Selbsthilfegruppen, tauscht euch mit anderen aus. Habt mehr Verständnis für euch selbst und auch für die Dinge, die nicht so schön waren und macht euch bewusst, jetzt könnt ihr alles ändern. Versucht es mit und ohne Medikamente, nehmt das, was sich am besten anfühlt und wenn dies beides nicht hilft, geht in eine spezielle Reha für ADHS.

Gebt nicht auf, nur weil ihr gelernt habt, dass ihr falsch seid oder nicht ganz normal seid. Für eure Neurodivergenz ist es eine Art von richtig und normal. Deshalb beschäftigt euch damit, gerade in den Socialmedia gibt es so viele tolle Blogger und Beiträge, die einem die schönen und tollen Seiten eröffnen.

Ein letztes Wort?

Ich möchte mich bei Bianca und dem ganzen Carenity-Team herzlichst bedanken, dass ihr mir immer mit viel Verständnis entgegengekommen seid und sogar ein halbes Jahr auf meinen kleinen Beitrag gewartet habt. Das ist einer der Momente, in dem ich Kraft schöpfen kann, und weiß, es gibt Gutes da draußen.

Und deshalb, bitte wenn ihr euch negativ betrachtet wegen eurem ADHS, seht es als Neuanfang und den Start für einen langen und schwierigen Weg, den es sich wirklich lohnt zu gehen.

Niemand ist hoffnungslos.

Herzlichen Dank an Püppi0909 für ihre Patientengeschichte! 

War diese Patientengeschichte hilfreich für Sie?    

Klicken Sie auf Ich mag oder teilen Sie Ihre Gedanken und Fragen mit der Gemeinschaft in den untenstehenden Kommentaren!     

Alles Gute!


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Autor: Bianca Jung, Gesundheitsredakteurin

Bianca ist spezialisiert auf das Betreuen von Online-Patienten-Communities. Ihr besonderes Interesse gilt den Bereichen Psychologie, Frauengesundheit und Ernährung.

Bianca hat einen Bachelor in... >> Mehr erfahren

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