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Asperger-Syndrom: „Die Diagnose hat mich meine Macken verstehen lassen“

Veröffentlicht am 02.04.2021 • Von Candice Salomé

OscarRose, ein Mitglied vom französischsprachigen Carenity, leidet an Asperger. Nach einer späten Diagnose fühlt er sich erleichtert und versteht alle seine „Macken“, wie er sie nennt.

Er teilt seinen Weg auf Carenity!

Asperger-Syndrom: „Die Diagnose hat mich meine Macken verstehen lassen“

Hallo OscarRose, vielen Dank, dass Sie bereit sind, Ihre Geschichte hier auf Carenity zu teilen!

Können Sie uns zunächst mehr über sich erzählen?

Mein Name ist Tom und ich bin 20 Jahre alt. Ich werde zu Hause unterrichtet und bin in meinem letzten Jahr der Oberstufe. Ich lebe mit meinen Eltern im Norden Frankreichs, solange bis ich in eine integrative Wohneinrichtung für Menschen mit Autismus in der Nähe von Paris ziehen kann. Ich schaue gern interessante Videos, lerne, kümmere mich um meine kleine pelzige Schwester (die Katze meiner Eltern) und vor allem um mein spezielles Interesse. Es ist ein Thema, das mich stundenlang beschäftigen kann und mich vergessen lässt, zu essen, zu trinken, auf Toilette zu gehen … Dieses Hobby ist das Gehirn und alles, was damit zusammenhängt (Psychologie, Psychiatrie, Neurologie, Medizin) und Autismus, seit ich 9 Jahre alt bin. Ich habe mich auch sechs Jahre lang für Veganismus und Transidentität interessiert.

Sie leiden am Asperger-Syndrom, können Sie uns mehr darüber erzählen und was die Symptome sind?

Ich spreche lieber von Merkmalen. Man muss die Triade der Beeinträchtigungen haben, um eine wirkliche Autismus-Diagnose zu erhalten. Sie müssen verstehen, dass jeder Autist seine eigene Form von Autismus hat. Übrigens sagen wir nicht mehr „Asperger-Syndrom“, sondern Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), weil Hans Asperger mit den Nazis kooperierte, an viele schreckliche Ideen und deren Politik glaubte und seine Experimente an Kindern durchführte. Wir unterscheiden ASS mit oder ohne Sprachverzögerung, mit oder ohne geistige Behinderung und mit oder ohne hohes intellektuelles Potential

Ich zum Beispiel habe Probleme mit der Kommunikation. Ich kann mehrere Stunden lang schweigen, wenn ich starke Gefühle empfinde oder, wenn ich müde bin. Ich habe Schwierigkeiten, Ironie zu verstehen, vor allem Humor und Sarkasmus. Ich hasse es, meinen Schlafplatz zu verändern oder meine Gewohnheiten und Rituale, wie z.B. jeden Tag zur selben Zeit meine TV-Serien anzuschauen. Ich leide auch an Hypermnesie, d.h. ich kann mich an genaue Daten oder Details aus meiner Kindheit erinnern. Ich bin überempfindlich bei Geräuschen, Gerüchen, Geschmack und Berührungen. Berührungen tun mir weh. Ich kann die Etiketten in meiner Kleidung oder manche Stoffe wie Jeans nicht ertragen, was meine Haut brennen oder jucken lässt. Ich kann umarmen, wenn ich dem zustimme, oder ich kann in manchen Situationen eine leichte Berührung akzeptieren. Sogar mich selbst berühren tut weh.

Ganz im Gegenteil mag ich es, Gewicht über mir zu spüren, weswegen ich eine beschwerte Jacke und eine beschwerte Decke habe, die von einem wunderbaren Menschen hergestellt wurden.

Ich trage ständig meine geräuschunterdrückenden Kopfhörer, die auch Musik spielen, sonst kann ich einen Nervenzusammenbruch erleiden und meinen Kopf anschlagen, schreien oder von zu viel Stimulation zusammenbrechen.

Ich stimuliere mich auch (Stimming): Flattern (ich schüttle meine Hände sehr schnell, wenn ich Gefühle verspüre), Schaukeln, Beißen in dafür vorhergesehene Gegenstände, Papier oder mein Shirt, besonders als ich jung war. Meine Stimmings sind auch: auf meine Lippen beißen, hart und schnell blinzeln, Filmdialoge am Tisch wiederholen und viele andere Gesten und Bewegungen.

Ich finde es schwierig, Gesichtsausdrücke und nonverbale Kommunikation wie Augenkontakt zu verstehen. Ich bin dabei, das zu lernen.

Ich leide auch an Prosopagnosie, das ist eine Unfähigkeit oder Schwierigkeit, Gesichter zu erkennen, sogr von Menschen, die mir nahestehen. Brad Pitt hat das auch.

Ich weiß, dass ich schlau bin, aber ich bin nicht Rain Man. Mein Autismus ist nicht durch eine geistige Behinderung charakterisiert.

Eine nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung (PDD-NOS) kann schwierig zu diagnostizieren sein. Wie alt waren Sie bei der Diagnose? Warum haben Sie einen Spezialisten für Ihren Asperger aufgesucht? Wie viele Ärzte haben Sie aufgesucht, bevor Sie die Diagnose erhielten?

Ich war 18 Jahre alt, also ist es noch nicht so lange her. Am 03. Oktober 2019 bin ich zu einem Arzt gegangen, weil ich mich mit Autisten identifiziert und nur mit ihnen wohlgefühlt habe, nachdem ich mit meiner Schwester den Film „Le cerveau d’Hugo“ gesehen hatte, als ich 11 Jahre alt war.

Meine Schwester war die Einzige, die mir geglaubt hat. Ich blieb standhaft und nach Autismus-Spektrum-Tests mit meinem Psychologen, habe ich einen Autismus-Spezialisten aufgesucht. Und ich erhielt die Diagnose.

Es ist schwer zu diagnostizieren, vor allem bei Frauen, weil sie „chamäleonartig“ sind und soziale Normen sehr gut imitieren können, und, weil es je nach Geschlecht verschiedene Merkmale gibt. Ich habe mich mit mehr als einem Dutzend Psychiatern getroffen und wurde mehrmals ins Krankenhaus eingewiesen, bevor mir jemand diese Diagnose stellte.

Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie die Diagnose erhielten? Was hat sich in Ihrem Alltag verändert?

Ich war erleichtert. Ich habe endlich alle meine „Macken“ verstanden. Ich war in der Lage, mich für eine spezielle inklusive Wohneinrichtung für Menschen mit Autismus zu bewerben, um anzuerkennen, dass meine Schwierigkeiten existieren. Ich werde jetzt von einem auf Autismus spezialisierten Pädagogen unterstützt.

Wie hat das Asperger-Syndrom sich auf Ihr Berufs- und Privatleben ausgewirkt?

In meinem Berufsleben habe ich ein bißchen gearbeitet, aber es ist kompliziert, weil ich zusätzlich zum Autismus noch motorische Störungen habe. Was mein Privatleben angeht, kann man sagen, dass es auch kompliziert ist, weil ich Schwierigkeiten habe, andere zu verstehen, und die Menschen haben Probleme, mich zu verstehen.

Es wird oft gesagt, dass Menschen mit Asperger Schwierigkeiten haben, Kontakte zu knüpfen. Stimmt das für Sie?

Lassen Sie uns einfach sagen, dass wir nicht unbedingt die besten sozialen Fähigkeiten haben oder soziale Normen und Standards verstehen, also kann das ein Problem sein. Ich kann sehr sozial und gesprächig sein, aber ich weiß nicht, wie man Freunde findet, weil es mir an sozialen Fähigkeiten mangelt. Es gibt Gruppen für soziale Fähigkeiten für alle Altersgruppen, und ich bin einer von ihnen beigetreten.

Können Sie leicht oder frei über Asperger sprechen? Wissen Ihre Familie und Freunde davon? Fühlen Sie sich unterstützt?

Ich spreche sehr leicht darüber, ja, vielleicht sogar zu leicht. Übrigens ist ASS keine Krankheit. Man kann es nicht heilen, es ist eine andere Art, die Welt zu sehen. Meine Familie und Freunde wissen davon. Ich fühle mich von meinen verschiedenen Ärzten unterstützt, aber nicht so sehr von meiner Familie.

Zuletzt: Welchen Rat würden Sie Carenity-Mitgliedern geben, die auch Asperger haben?

Sie sollen sie selbst sein. Es ist unsere Stärke und Schwäche gleichzeitig. Es ist nur eine andere und wundervolle Art, die Welt zu sehen. Wir haben den Neurotypen (ein Begriff für Menschen, die nicht autistisch sind) eine Menge beizubringen. Wir müssen stolz darauf sein, wer wir sind, denn wir sind einzigartig.

Abschließende Gedanken?

Ich würde gern mit einem bekannten Zitat von Antoine de Saint-Exupéry schließen, das aus seinem Roman „Der kleine Prinz“ stammt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

War diese Patientengeschichte hilfreich für Sie?
Gerne können Sie Ihre Gedanken und Fragen in den untenstehenden Kommentaren mitteilen!
Alles Gute!


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avatar Candice Salomé

Autor: Candice Salomé, Gesundheitsredakteurin

Candice ist Content Creator bei Carenity und hat sich auf das Schreiben von Gesundheitsartikeln spezialisiert. Ihr besonderes Interesse gilt den Bereichen Psychologie, Wellbeing und Sport. 

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