Affluenza oder Kann Wohlstand krankmachen?
Veröffentlicht am 29.12.2015 • Von Giovanni Mària
Affluenza - Gibt es die "Wohlstandskrankheit" wirklich?
Ein amerikanischer Teenager fährt betrunken vier Menschen tot. Die wohlhabenden Eltern haben den Jungen offenbar sein Leben lang verwöhnt. Vor Gericht attestieren ihm seine Verteidiger die Wohlstandskrankheit Affluenza. Gibt es die?
Ethan Couch hat einen Fehler gemacht. Vor zwei Jahren fuhr der damals 16-jährige Texaner betrunken Auto, tötete vier Menschen und verletzte zwei weitere Personen schwer. 2,4 Promille soll Couch damals im Blut gehabt haben, rund das Dreifache der erlaubten Menge. Es kam zum Prozess.
Tatsächlich sprachen die Richter Ethan Couch des vierfachen Totschlags und der zweifachen schweren Körperverletzung schuldig. Doch statt der von der Staatsanwaltschaft geforderten 20 Jahre Haft kam der Teenager mit einer vergleichbaren milden Strafe davon - mit zehn Jahren auf Bewährung.
Der Grund: Während des Prozesses hatten Ethan Couchs Verteidiger versichert, er leide an einer sogenannten Affluenza, einer Wohlstandskrankheit. Demnach habe nicht nur Couch Schuld an dem Unfall, sondern in erster Linie seine Eltern, die ihren Sohn offenbar maßlos verwöhnt hatten. Der junge Texaner habe tun und lassen können, was er wollte – so habe er nie lernen können, die Konsequenzen seines Handelns einzuschätzen.
Das vergleichsweise milde Urteil entfachte bereits vor zwei Jahren einen Sturm der Entrüstung und wird nun wieder heiß diskutiert: Denn Couch soll vor einigen Wochen gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen haben. Seitdem befand er sich auf der Flucht. Medienberichten zufolge soll er nun in Mexiko festgenommen worden sein.
Affluenza - eine erfundene Krankheit?
Auf Unverständnis stößt in erster Linie die Diagnose "Wohlstandskrankheit", die ihm ein Psychiater während des Prozesses stellte. Tatsächlich handelt es sich dabei um keine anerkannte Krankheit. Weder die "American Psychiatric Association“ noch die "International Classification of Diseases" (ICD) listen die Affluenza als offizielle Diagnose. Das Kunstwort setzt sich aus den Begriffen "Influenza" und "Affluence", also Wohlstand, zusammen.
Der Begriff Affluenza ist daher vor allem Konsumkritikern ein Begriff: Sie sehen das vermeintliche Krankheitsbild als Ausdruck von Reichtum, hervorgerufen durch die Gier nach Geld und Gütern. Die US-amerikanische Autorin Jessie O'Neill machte das Kunstwort Ende der Neunzigerjahre populär, als sie das Buch "The Golden Ghetto: The Psychology of Affluence" veröffentlichte. Darin beschreibt sie die Gefahr, dass Kinder reicher Familien verzogen werden könnten und so nie lernen, zwischen falsch und richtig zu unterscheiden. Den Grund dafür sieht sie in einem schwierigen Eltern-Kind-Verhältnis, basierend auf der Annahme, dass wohlhabende Eltern kaum Zeit hätten, sich um ihre Kinder zu kümmern. Folglich fehlten dem Kind klare Richtlinien im Leben.
Psychologen bezweifeln jedoch die Existenz dieses Phänomens –
und kritisieren, dass die Diagnose vor Gericht als entlastender Punkt aufgeführt wird: "Diese Art der Verteidigung ist lächerlich", kritisierte der US-Psychologe Gary Buffone gegenüber der"National Post" vor zwei Jahren. "Die Eltern haben die Folgen nicht zu verantworten, ein Eindruck, der durch die Vorgehensweise der Richterin bestärkt wird." Eine Auffassung, die auch Thomas Plante, Psychologie-Professor an der Santa Clara University in Kalifornien, teilt: "Affluenza ist eine nette Idee, die der öffentlichen Fanatasie entspringt", wird Plante von "Discovery News" zitiert. "Aber es gibt keine diagnostischen Kriterien, um festzustellen, ob Menschen eine Affluenza haben."
In den USA sorgen Gerichtsurteile immer wieder für Schlagzeilen: So entschieden vor einem Jahr Richter in Miami, dass der Witwe eines Kettenrauchers umgerechnet rund 17,1 Milliarden Euro Schadensersatz zustehen. Die Frau hatte geklagt, nachdem ihr Mann mit 36 Jahren an Lungenkrebs gestorben war. Sie argumentierte, dass der Tabakkonzern R.J. Reynolds nicht ausreichend über die Gefahren des Zigarettenrauchens aufgeklärt hatte.
Quelle: stern.de
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