Die Ursache von Krebs ist vor allem Pech
Veröffentlicht am 24.03.2017 • Von Giovanni Mària
Die Ursache von Krebs ist vor allem: Pech
Eine aktuelle Studie zeigt: Zwei Drittel der Mutationen in 32 untersuchten Krebsarten entstehen schlicht durch Zufall.
Bei den Teilungen der Stammzellen kommt es zu spontanen Mutationen, die manchmal das Wachstum eines bösartigen Tumors starten können.
Die Forscher betonen, wie gefährlich Lebensstilfaktoren sind - und wie wichtig Vorsorge ist, um Tumore frühzeitig erkennen und bekämpfen zu können.
Warum ich? Diese Frage stellt sich wahrscheinlich jeder Krebspatient nach der Diagnose. Eine Antwort geben nun der Biostatistiker Cristian Tomasetti und der Krebsbiologe Bert Vogelstein: Zwei Drittel der Mutationen in 32 untersuchten Krebsarten entstehen schlicht durch Zufall bei der Vermehrung körpereigener, gesunder Stammzellen.
Meist richten diese Veränderungen im Erbgut keine schweren Schäden an, aber wenn sie in einem wichtigen Gen auftauchen, "dann ist das Pech", sagt Vogelstein, und die Betroffenen könnten nichts dagegen tun, selbst wenn sie "ein nahezu perfektes Leben führen würden".
Stammzellen können sich fast unbeschränkt vermehren, sie sorgen für die Reparatur defekter Organe und dafür, dass stets Ersatz verfügbar ist, wenn entwickelte Zellen altersbedingt ausfallen. Das kann je nach Organ zwischen zwei Wochen und vielen Jahren passieren. Bei den Teilungen der Stammzellen kommt es zu spontanen Mutationen, die manchmal das Wachstum eines bösartigen Tumors starten können. So erklären Tomasetti und Vogelstein im Wissenschaftsjournal Science die Entstehung einer Vielzahl von Krebsarten.
Auch wenn sich durch ihre Erkenntnis die Entstehung eines Krebstumors nicht abwenden lässt, hoffen die Forscher, Menschen helfen zu können: "Wenn sich zum Beispiel Eltern krebskranker Kinder im Internet informieren wollen, weshalb ihr Kind erkrankt ist, werden sie vor allem Aussagen über vererbte Gene und Umwelteinflüsse als Erklärung finden. Das verursacht oft starke Schuldgefühle", sagt Vogelstein. Er wünscht sich, dass seine Arbeit beiträgt, Eltern diese Selbstvorwürfe zu ersparen.
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Von der genetischen Lotterie sind insbesondere Organe betroffen, in denen sich Stammzellen besonders schnell vermehren, um das umliegende Gewebe zu regenerieren: Die Fehlerzahl steigt mit der Zahl der Zellteilungen. Im Dickdarm etwa gibt es besonders viele Zellteilungen und auch vergleichsweise viele Tumore. So war Vogelstein auch den spontanen Mutationen auf die Spur gekommen: Er hatte über die Frage nachgedacht, weshalb manche Tumorarten oft und andere seltener auftreten. Er entdeckte einen Zusammenhang zwischen Tumorhäufigkeit und Stammzellvermehrung in den betroffenen Geweben und begann vor einigen Jahren mit dem Bioinformatiker Tomasetti, der Sache systematisch nachzugehen.
Vielfach wurde Krebs damals als "Pech" dargestellt
Bereits vor 2015 hatten die beiden mit diesem Konzept der Krebsentstehung für Aufruhr in der Fachwelt gesorgt. Vielfach wurde Krebs damals als "Pech" dargestellt und als wäre ein gesunder Lebensstil nutzlos. Dabei hatten Tomasetti und Vogelstein betont, dass trotz der großen Rolle des Zufalls 30 bis 40 Prozent aller Tumore vermeidbar wären - genauso wie Krebsmediziner oft betonen - etwa durch Verzicht auf Rauchen, Verminderung von starkem Übergewicht und anderen gesundheitsschädlichen Faktoren.
In der neuen Arbeit versuchen die beiden Wissenschaftler auch abzuschätzen, wie groß der Anteil der verschiedenen Faktoren bei der Entstehung von Tumoren ist. Nach den Berechnungen Tomasettis entstehen 77 Prozent der kritischen Mutationen, die zu Bauchspeicheldrüsenkrebs führen können, durch Zufall bei der Zellteilung, 18 Prozent durch Umwelteinflüsse und fünf Prozent sind vererbt. Bei Tumoren der Prostata und im Gehirn schätzt Tomasetti den Einfluss der Zufallsmutationen auf 95 Prozent, bei Lungenkrebs hingegen nur auf 35 Prozent.
Vor zwei Jahren blieben noch Zweifel, ob sich ihre Annahme auch auf andere Länder mit anderen Lebensweisen übertragen ließ, denn die beiden Wissenschaftler hatten damals nur Daten amerikanischer Krebsregister ausgewertet. Die neue Untersuchung blickt nun auf Daten aus 68 Ländern und findet wieder eine starke Korrelation zwischen der Tumorhäufigkeit in einem Organ und den Vermehrungsraten der Stammzellen dort.
Der Stammzellforscher Andreas Trumpp, Abteilungsleiter im Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, erkennt in der Arbeit der Kollegen viele spannende Aspekte, zweifelt allerdings an der Belastbarkeit der Zahlen: "Ob es nun in der jeweiligen Krebsart 60, 43 oder 75 Prozent der Mutationen sind, die auf Fehler in der Replikation der Zellen zurückzuführen sind, lässt sich so eindeutig sicher noch nicht sagen." Die Vermehrungsraten der Stammzellen in den verschiedenen Geweben seien bislang "nur über den Daumen gepeilt" worden, und auch zu den Mutationsraten gibt es noch keine verlässlichen Zahlen. "Natürlich spielen immer unterschiedliche Faktoren bei der Krebsentstehung zusammen und es ist schwierig, sie voneinander zu trennen."
Unabhängig von den spontanen Mutationen habe es in den vergangenen Jahren weitere Hinweise auf Stammzellen als Ursprung mancher Krebsarten gegeben. In dieses Bild fügen sich die neuen Erkenntnisse schlüssig ein. Außerdem sei bekannt, dass chronische Entzündungen immer mit einem erhöhten Krebsrisiko einhergehen, sagt Trumpp. Auch dieser Zusammenhang passt in das Bild, das die amerikanischen Forscher jetzt vom Krebs zeichnen, denn Entzündungen beschleunigen die Vermehrung der Stammzellen und erhöhen demnach auch die Zahl der Mutationen.
In ihrer neuen Studie geben sich Tomasetti und Vogelstein mehr Mühe, um nicht noch einmal den Eindruck zu erwecken, dass Krebs ein reiner Schicksalsschlag ist. Sie betonen, wie gefährlich Lebensstilfaktoren wie Rauchen sind und wie wichtig Vorsorge ist, um die unvermeidbaren Tumoren frühzeitig erkennen und bekämpfen zu können. Die Erkrankten, die gesund gelebt haben, nicht geraucht sich aber viel bewegt und vor der Sonne geschützt haben, für die hofft Vogelstein, dass sie zumindest etwas Trost darin finden, dass sie nichts hätten tun können, um ihre Krankheit abzuwenden.
sueddeutsche.de