Erst Physiotherapeut, dann Heilpraktiker
Veröffentlicht am 22.08.2017 • Von Giovanni Mària
Erst Physiotherapeut, dann Heilpraktiker
Experten haben ein Positionspapier mit Vorschlägen veröffentlicht, wie man den Beruf des Heilpraktikers reformieren könnte.
Der sogenannte Münsteraner Kreis kritisiert die teils mangelnde oder fehlende Ausbildung vieler Heilpraktiker.
Die Fachleute schlagen eine "Kompetenzlösung" vor: Wer den Beruf erlernen will, muss zunächst eine Ausbildung zum Krankenpfleger, Logopäden oder Physiotherapeuten absolvieren.
Wer nach Parallelwelten im deutschen Gesundheitssystem sucht, muss sich eigentlich nur an einen durchschnittlich besetzten Kneipentisch gesellen und das Stichwort Heilpraktiker in die Runde werfen. Immer gibt es einen, der sagt: "Das sind Esoteriker." Und immer gibt es einen, der entgegnet: "Mir hat ein Homöopath geholfen, als kein Arzt meine Rückenschmerzen in den Griff bekommen hat." Es ist ein tiefer Graben, der unüberwindbar erscheint - insbesondere in Deutschland.
Am heutigen Montag erscheint nun im Deutschen Ärzteblatt ein Memorandum von hochrangigen Experten, das den Brückenschlag zwischen diesen Welten versucht. Zu dem sogenannten Münsteraner Kreis zählen neben dem Medizinjuristen und langjährigen Ethikratmitglied Jochen Taupitz, der ehemaligen Homöopathin Natalie Grams und weiteren Fachleuten auch die Ärztin und Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert, die das Papier initiiert hat. "Wir wollten ausloten, wie ein solidarisches Gesundheitswesen verantwortlich und fair mit dem Clash zwischen gefährlicher Pseudowissenschaft und Selbstbestimmung umgehen sollte", sagt Schöne-Seifert. Rechtlich bindend sind die Vorschläge des Münsteraner Kreises zwar nicht, Politiker orientieren sich aber häufig an der Expertise solcher Gremien.
Der Münsteraner Kreis kritisiert neben den dünnen oder fehlenden Wirksamkeitsbelegen für Therapieangebote wie Homöopathie, Bach-Blüten oder Akupunktur vor allem die mangelnde Ausbildung der Heilpraktiker. So reichen derzeit ein Hauptschulabschluss und autodidaktisch erworbene Kenntnisse aus, um die staatliche Prüfung zum Heilpraktiker abzulegen. Dass diese Heilpraktiker an Patienten fast genau die gleichen Krankheiten behandeln, wie ein langjährig studierter, durch zwei Staatsexamen geprüfter Arzt, halten die Autoren für inakzeptabel.
Wie oft es zu Fehlbehandlungen kommt, ist unbekannt
Die Experten sind sich dabei bewusst, dass es durchaus Lehrangebote an privaten Schulen gibt. "Man muss anerkennen, dass sich einige Heilpraktikerverbände um eine zumindest intensive Ausbildung bemühen", sagt Jochen Taupitz von der Universität Mannheim. Viele Heilpraktiker kennen zudem die Grenzen ihrer Kompetenz - und verweisen Patienten mit schweren Erkrankungen wie Diabetes, Herzleiden oder Krebs an einen Mediziner. Weder die Ausbildung noch Selbstbeschränkung sind jedoch verpflichtend und an Mindestvorgaben gebunden.
Dass es in der Heilpraxis statt um wirksame Behandlungen eher um Aufmerksamkeit und Zuwendung geht, finden wohl viele Patienten in Ordnung, weil sie in der Hausarztpraxis die Menschlichkeit vermissen. Doch leider gibt es auch Fälle, in denen fragwürdige Behandlungen Menschenleben kosten - wie zuletzt das von drei Krebspatienten, die nach der Therapie eines Heilpraktikers in Brüggen (Niederrhein) starben. Der Mann hatte per Infusion ein nicht zugelassenes Mittel verabreicht - und damit nicht einmal gegen die Regeln verstoßen.
Wie oft es zu solchen, oder auch zu weniger auffälligen Fehlbehandlungen in der Heilpraktik kommt, ist unbekannt. Nicht einmal die genaue Zahl der in Deutschland tätigen Heilpraktiker ist aktenkundig, sie liegt irgendwo zwischen 48 000 und 120 000. Für Patienten ist im Einzelfall unklar, ob und welche Ausbildung der behandelnde Heilpraktiker genossen hat.
"Aufgrund der üblichen hohen Qualitätsstandards gehen Menschen hierzulande davon aus, dass diese alle wichtigen Lebensbereiche regulieren - also auch die Gesundheitsversorgung durch Heilpraktiker", schreiben die Experten. Dass dem nicht so ist, halten sie für nicht länger hinnehmbar. "Es wäre undenkbar, jemandem die Steuerung eines Flugzeugs anzuvertrauen, dessen ganze Kompetenz in einem erfolgreich absolvierten Workshop über die Sage des Ikarus besteht."
sueddeutsche.de
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