Leicht verdaulich
Veröffentlicht am 18.08.2017 • Von Giovanni Mària
Leicht verdaulich
Fachleute sind sich sicher: Darmkrebs kann besiegt werden. Die Gretchenfrage lautet jedoch: Wie hält es unser Gesundheitswesen mit Visionen?
Wie hält es unser Gesundheitssystem mit der Wissenschaftlichkeit? Ja, auch damit kann man Wahlkampf machen. Derzeit beschäftigt die Gesundheitspolitiker etwa die alte Frage, ob die apothekenpflichtige Homöopathie künftig im Ladenlokal oder an der Tankstelle unters Volk gebracht werden soll, um den Kügelchen endgültig den Anschein der Wissenschaftlichkeit zu nehmen. Auch mit Medikamentenpreisen lassen sich hitzige Debatten provozieren. Gesundheitspopulismus geht immer. Die Gretchenfrage an das Gesundheitssystem aber ist nicht so einfach zu beantworten, das ließ sich vor kurzem auf einem Symposion am Deutschen Krebsforschungszentrum mit dem vielversprechenden Titel „Ein Fahrplan für die Eliminierung von Darmkrebs“ schnell erkennen. Die Gretchenfrage nämlich lautet: Wie hält es unser Gesundheitswesen mit Visionen?
Zum dritten Mal hatten sich auf Einladung des Netzwerks gegen Darmkrebs diverse Experten aus der Krebsmedizin und den Fachverbänden in Heidelberg getroffen, und es wurde, was man von Wissenschaftskongressen nicht immer behaupten kann: eine Demonstration der starken Worte, der großen Ziele und der rasenden politischen Ungeduld. Verkörpert wird diese durch niemanden besser als durch Christa Maar, Vorstand der Felix-Burda-Stiftung, deren Sohn früh an Darmkrebs gestorben war und die seit Anfang der Jahrtausendwende für eine konsequente Darmkrebs-Prävention kämpft: „Es bewegt sich überall zu wenig“, so ihr Memento. Immerhin, ihre anfangs noch als illusorisch abgetane Idee, Darmkrebs durch Früherkennung und Vorsorge auszurotten, ist inzwischen praktisch auf der Agenda aller maßgeblichen Institutionen. Und das bei einer Tumorerkrankung, die als Killer Nummer eins (zumindest für Nichtraucher) gilt.
Etwa 25 000 Menschen sterben jährlich daran, in der Gruppe der Zwanzig- bis Fünfunddreißigjährigen ist die Zahl der Neuerkrankungen in den zurückliegenden zwanzig Jahren bei jüngeren Erwachsenen sogar deutlich gestiegen. Aber nicht nur das beschäftigt die Forschung: Es gab auch einen Innovationsstau: Vier Fünftel der Tumorerkrankungen des Darms sind in den frühen, gut behandelbaren Stadien durchs grobe Raster der Vorsorge gerutscht. Ausrotten also? Darmkrebs sei als einziger der „großen“ Tumorleiden fast komplett vermeidbar, davon ist auch Christoph von Kalle überzeugt, Direktor am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen. Die „Nulllösung“ sei erreichbar, sagt er, zumindest näherungsweise – „Vision Zero“, in Anlehnung an das schwedische Verkehrssicherheitsmodell, das die Zahl der Verkehrstoten durch jahrelange Fehler- und Verbesserungsanalysen um neunzig Prozent reduzierte. „Wir haben jetzt die Möglichkeiten dazu, was wir brauchen, ist ein nationaler Masterplan und jemand, der das in die Hand nimmt.“
Vorbildvorsorge aus den Niederlanden
Mit anderen Worten: Was fehlt, sind die Mittel. Die Übertragung eines von Ernst Kuipers und seinem Team in „Gastroenterology“ vorgestellten niederländischen Vorsorgemodells würde nach Aussagen Kalles 80 bis 100 Millionen Euro jährlich kosten. Damit ließen sich die personalisierten Einladungen für die rund 17 Millionen Bürger über fünfzig finanzieren. Entscheidend ist die Nutzung des neuen immunchemischen Stuhltests, der dreimal so empfindlich ist wie der alte Stuhltest, sowie ein Einladungsschreiben, dem ein frankierter Rückumschlag beiliegt, den man direkt ans Labor schickt.
Fast drei Viertel der 741.000 angeschriebenen Holländer schickte den Test ab, 2.483 Krebsfälle und 12.030 Vorstadien wurden entdeckt. Damit ist noch keineswegs belegt, dass man so tatsächlich auch die Zahl der Todesfälle drastisch reduziert, die holländische Regierung jedenfalls setzt darauf: Sie bezahlt das im Jahr 2014 eingeführte Einladungsverfahren komplett. Und die Darmkrebsoffensive hat noch weitere Eisen im Feuer: Einen Atemtest etwa, der in Heidelberg vorgestellt wurde, und der mit dem Nachweis von tumorspezifischen Substanzen in der Atemluft in seiner Genauigkeit und Empfindlichkeit schon über dem neuen Stuhltest liegen soll. Ein Atemtest beim nächsten Arztbesuch – leichter wäre Früherkennung kaum denkbar. Vorausgesetzt, es wird bezahlt, und die Gefahr von „Fehlalarmen“, sprich: Überdiagnostik, wird ausgeräumt. Und dann ist ja da noch die Trägheit im System. Wer kuriert die?
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