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Vom Glauben an die Kälte

Veröffentlicht am 14.03.2016 • Von Giovanni Mària

Vom Glauben an die Kälte

Der Glaube an die Kälte

Die ganz Harten baden jetzt schon im See, joggen in Shorts – und schwärmen von stählerner Gesundheit. Was soll das?

Frau Geppert fühlt sich unterfordert. Es ist ihr zu warm. Nicht einmal die dünnste Eisschicht bedeckt das Wasser. Acht Grad Celsius hat die Berliner Luft nur – im Februar? Da kann man sich ja gleich in die Badewanne legen. Das tut Frau Geppert dann doch nicht, sondern sie steigt in den See, wie gewohnt. Jeden Sonntagmorgen um 10 Uhr trifft sich die stramme 66-Jährige mit ihren Vereinskollegen von den "Berliner Seehunden" am Orankesee im Stadtteil Hohenschönhausen. Dann ziehen sich die Seehunde nackt aus und gleiten ins ein Grad kalte Wasser. "Fünf Minuten halte ich das aus", sagt Carola Geppert, dann wärmt sie sich in der Februarluft auf. Aber nur kurz, denn zu ihrem Ritual gehören drei Badegänge. Andere Seehunde schwimmen eine halbe Stunde im See.

Seit 18 Jahren nimmt Carola Geppert regelmäßig im Winter ihre Eisbäder. Es habe ihre Laune verbessert, sagt sie, und ihre Haut gestrafft. Aber vor allem reagiere sie viel weniger empfindlich auf Kälte und werde nicht mehr so oft krank. Und wenn ihr Enkelsohn ihr aus der Kita doch mal eine Erkältung mitbringe, dann sei das nach drei Tagen erledigt.

Frau Geppert hat sich abgehärtet. Viele wünschen sich, unempfindlich gegen Kälte und Krankheit zu werden. Die Fans der Abhärtung sind bereit, dafür einiges auf sich zu nehmen: Sie springen in eiskaltes Wasser, sie werden zu Kaltduschern, joggen in kurzer Hose und Unterhemd durch den Schnee, manche sogar barfuß, sie drehen die Heizung nicht mehr auf. Kaum ein Online-Artikel über Erkältung oder Grippe, unter dem sich nicht mindestens ein Leserkommentar dieser Art findet: "Meine letzte Erkältung hatte ich vor (hier eine zweistellige Zahl einsetzen) Jahren. Seit ich regelmäßig im See bade / zu Hause nur noch nackt herumlaufe / bei offenem Fenster schlafe / die Heizung nicht mehr benutze, fühle ich mich besser / wacher / kräftiger / lebendiger als je zuvor." Der abgehärtete Mensch – er spricht gern über den wohlverdienten Lohn für seine Kälte-Qual.

Zugrunde liegt diese Logik: Wenn es kalt ist, erkältet man sich leicht. Also rüstet man sich gegen Kälte, dann kann sie einem nichts mehr anhaben. Aber kann man sich wirklich abhärten? Und falls ja, schützt es einen vor Krankheit?

"Wenn man Abhärten so definiert, dass man unempfindlicher gegenüber Kälte wird, dann lautet die Antwort: Ja, das kann man trainieren", sagt Rüdiger Köhling, Physiologe an der Universität Rostock. Wenn wir frieren, macht unser Körper erst einmal die Schotten dicht. "Die Blutgefäße verengen sich, das Blut fließt weniger in Arme, Beine und Haut und dafür mehr ins Körperinnere." Diese Zentralisierung soll den Wärmeverlust über die Haut senken und sicherstellen, dass die lebenswichtigen Organe nicht auskühlen.

Der Körper wirft außerdem seine Heizung an: Er lässt die Muskeln zittern und produziert so Wärme. "Muskeln sind mit einem Wirkungsgrad von 30 Prozent in etwa so effizient wie ein altes Kohlekraftwerk", sagt Köhling. Die restlichen 70 Prozent gehen als Wärme verloren. Wenn es kalt wird, ist das eigentliche Abfallprodukt aber erwünscht. Und dann ist da noch die Fettheizung: Braunes Fettgewebe enthält viele Mitochondrien. Diese Strukturen, die Kraftwerke der Zelle, erzeugen im braunen Fettgewebe aus der Energie direkt Wärme. Wer sich regelmäßig Kälte aussetzt, stimuliert diese Regionen und kann leichter Wärme produzieren.

Dass sich diese Reaktion des Körpers trainieren lässt, zeigen auch Untersuchungen aus den siebziger und achtziger Jahren an japanischen Perlentaucherinnen. Sie hielten sich täglich stundenlang ohne Kälteschutzanzug im kalten Wasser auf. "Diese Frauen haben im Winter einen erhöhten Stoffwechsel, fangen später an zu zittern, und ihr Körper zentralisiert das Blut stärker als der von Untrainierten", erzählt Köhling. In anderen Untersuchungen fanden Wissenschaftler heraus, dass die Haut von abgehärteten Probanden nach einem Kältereiz schneller durchblutet wird. Man muss allerdings regelmäßig trainieren, sonst verweichlicht man wieder. Auch als die Perlentaucherinnen später Neoprenanzüge benutzten, verloren sie ihre besonderen Fähigkeiten.

Aber man muss nicht unbedingt in einen eisigen See springen oder im Winter in Shorts herumlaufen, um weniger leicht zu frösteln. "Jegliche Aktivierung der Blutgefäßmuskulatur hilft auch schon", sagt Köhling. Zum Beispiel mit Sport, Wechselduschen und Sauna.

Gegen Kälte kann man sich also abhärten – doch viel wichtiger ist eine andere Frage: Schützt das wirklich vor Krankheit? Wir meinen, dass Kälte uns krank macht. Ist Winter nicht Grippezeit? Kommt das Wort Erkältung nicht von kalt? So erstaunlich es klingt: Dass Kälte Infektionen begünstigt, sei "weder erwiesen noch widerlegt", sagt Stefan Meuer, Immunologe am Uniklinikum Heidelberg.

Aber könnte Abhärtung einen vielleicht trotzdem gesund halten? "Es gibt keine einzige Studie, die das jemals belegt hat", sagt Meuer. Die meisten Studien, die den Effekt von kaltem Wasser auf das Immunsystem untersucht haben, sind wenig aussagekräftig: Oft waren die Probandengruppen klein, oder es gab keine Kontrollgruppe, die nicht kalt duschte. Die Ergebnisse der besser konzipierten Untersuchungen sind widersprüchlich. In einer Studie wurden insgesamt 50 Personen sechs Monate lang beobachtet. 25 machten Wechselduschen, 25 nicht. Nach drei Monaten beobachteten die Forscher einen Effekt: In der Wechselduschen-Gruppe traten 13 Prozent weniger Infekte auf, und diese dauerten zwei Tage kürzer als in der Kontrollgruppe. Dem gegenüber steht allerdings eine Studie mit 146 Kleinkindern, die häufig an Infekten litten (mindestens sechsmal im Jahr). Zwölf Monate lang inhalierten alle Kinder Salzwasserdampf. 81 machten zusätzlich Wechselduschen. Das Ergebnis spricht dagegen, dass diese Prozedur vor Erkältungen schützt: Alle Kinder hatten noch genauso häufig Infekte wie zuvor.

Abhärtung ist auch eine Frage des Geistes: "Wenn jemand meint, eine Methode gefunden zu haben, die ihm hilft, gesund zu bleiben, dann soll er sie ruhig anwenden", sagt Meuer. "Bei der Behandlung von Erkältungen beobachten wir sehr starke Placeboeffekte."

Carola Geppert jedenfalls hat ihre Methode gefunden – und mit der kommt sie auch über den Sommer. "Im April geht’s nach Südafrika", erzählt sie, "dann ist dort Winter." Und der Pool des Hotels immer herrlich leer.

Quelle: zeit.de

 

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Autor: Giovanni Mària, International Traffic Manager

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8 Kommentare


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Abgemeldeter Nutzer
am 21.03.16

Eine 60°-Sauna geht für mich. Alles andere ist für mich auch zu viel.


Freddy
am 21.03.16

Es gibt ja mehrere Arten von Saunen. Einmal die klassische finnische Dampfsauna mit 90°, dann eine mit
60° und eine Infrarot mit 45° Celsius. Man muss sich da langsam rein finden, 90° auf Schlag und 15 Minuten, da bin ich auch "tot". Ehrlich gesagt, fehlt mir das ein bisschen. Aber der Weg ist zu weit.


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Abgemeldeter Nutzer
am 22.03.16

Dass es eine 45° Sauna gibt, wusste ich bisher nicht. Was ist da so der Unterschied zur klassischen Sauna? (Du scheinst dich da ja etwas auszukennen, Freddy ...) Ist das da auch so "dampfig"?

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