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Alkoholabhängigkeit und die Stigmatisierung und Isolation von Betroffenen

Veröffentlicht am 19.03.2019 • Von Louise Bollecker

Entdecken Sie die bewegende Geschichte von Yves, einem Carenity-Mitglied aus Frankreich. Er begleitete seine Frau Fabienne bis zum Schluss und kämpfte gegen ihre Alkoholabhängigkeit und Depression. Heute hat er sich entschieden, trotz ihres Todes seinen Kampf fortzusetzen, um Angehörige besser in die Betreuung von Krankheiten einzubeziehen. Lesen Sie seinen Blog (auf Französisch) hier.

 

Alkoholabhängigkeit und die Stigmatisierung und Isolation von Betroffenen

Hallo und danke, daß Sie sich bereit erklärt haben, unsere Fragen zu beantworten. Können Sie sich kurz vorstellen?

Mein Name ist Yves und meine Frau hieß Fabienne. Ich bin ein 57-jähriger Mann, Vater von drei Kindern. Ich lebte 24 Jahre mit meiner Frau, die ich an unserem Arbeitsplatz, einem öffentlichen Krankenhaus kennelernte. Ich war ein erfüllter Partner und Ehemann. Von Geburt an behindert, war ich immer ziemlich schüchtern Mädchen gegenüber, und als sich diese sehr hübsche Frau für mich interessierte, "trat in mein Herz einen Teil dieses Glücksgefühls ein, dessen Grund ich kannte" (Auszug aus Edith Piafs « La vie en rose »). Sie lehrte mich alles über dieses Glück und vieles mehr. Wir hatten 3 Jungs, waren immer zusammen und haben alles geteilt.

Ihre Frau hat unter Depressionen und Alkoholabhängigkeit gelitten. Was waren die ersten Anzeichen?

Ich habe ihr Unwohlsein und ihre Depressionen nicht wirklich wahrgenommen, bis Ihre Sucht offensichtlich wurde. Später habe ich erfahren, daß sie angefangen hatte zu trinken, um ihre Angstzustände zu beruhigen, als unser jüngster Sohn an Krebs erkrankte, und daß sie anschließend für mehrere Jahre wieder aufgehört hatte. Berufliche Schwierigkeiten waren der Auslöser für ihre Depressionen und den erhöhten Alkoholkonsum. Sie trank immer heimlich stark alkoholisierte Getränke, die ihr nicht schmeckten. Als mir ihre Sucht bewußt wurde, trank sie regelmäßig große Mengen an Alkohol und konnte ihren Rauschzustand nicht mehr verbergen. Als ich sie bat, sich behandeln zu lassen, stimmte sie unverzöglich zu mit unserem Hausarzt darüber zu sprechen. Dann akzeptierte sie eine Entzugsbehandlung in einer Privatklinik.

alcool

Wie haben Ihre Kinder und die Menschen in Ihrem Umfeld reagiert?

Ich denke, wir hatten alle Angst sie zu verlieren und leideten darunter zu sehen, daß sie sich zerstörte. Es hat unsere Familienbande gestärkt.  Die drei Jungen waren 12, 10 und 7 Jahre alt, als sie krank wurde. Unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Alters und ihrer Bereitschaft, darüber zu sprechen oder nicht, habe ich unseren Kindern immer von der Realität der Krankheit ihrer Mutter erzählt. Fabienne kümmerte sich ständig um uns, sobald es ihr besser ging. Für ihre Eltern war ihre Krankheit unverständlich. Der Austausch zwischen ihnen über ihr Leiden war völlig unmöglich, und ich weiß, daß sie enorm gelitten haben.

War die Entscheidung, bei Ihrer Frau zu bleiben, offensichtlich? Hatten Sie irgendwelche Zweifel?

Nicht einen Moment lang dachte ich daran, mich freiwillig von meiner Frau zu trennen. Ich hasste ihre Krankheit, die Verleugnung, die Lügen und mein eigenes Misstrauen. Ich hatte mehr als 9 Jahre lang jede Minute Angst um sie.

Als ich nach mehreren Rückfällen und zu vielen massiven Rauschzuständen, die direkt ihr Leben gefährdeten, keinen Ausweg sah, bat ich sie, sich eine Wohnung zu suchen, um sich um sich selbst zu kümmern und ihr Leben in die Hand zu nehmen. Aber für mich war das immer noch eine Etappe Ihre Behandlung und keineswegs eine endgültige Trennung. Als sie für Nachsorgebehandlungen für 3 und 6 Monate ins Krankenhaus eingewiesen wurde, besprachen wir miteinander eine etwaige Trennung - wenn sie wollte - damit sie sich wieder aufbauen konnte. Ich hätte diese Trennung akzeptiert, wenn sie es ihr ermöglicht hätte, ihren Weg zur Genesung zu finden. Aber ich weiß, daß wir, die Kinder und ich, ihr einziger Grund weiterzuleben geworden sind.

Wie wurde sie ärztlich betreut?

Eine erste Kur wurde von unserem behandelnden Arzt in einer örtlichen Privatklinik vorgeschlagen, mit einem dreiwöchigen Entzug und einer medikamentösen Behandlung nach der Entlassung. Nach ihrem Rückfall musste ich gegen ihren Willen ihren ersten Krankenhausaufenthalt in eine öffentliche Einrichtung für geistige Gesundheit in diesem Sektor beantragen, auf Anraten der Ärztin der Privatklinik, vor der sie suizidale Äußerungen gemacht hatte, und gleichzeitig den Krankenhausaufenthalt ablehnte. Es folgten viele freiwillige oder unfreiwillige Krankenhausaufenthalte sowie ambulante Nachbeobachtungszeiten in der Tagesklinik und Nachsorge.

Wurde die Behandlung auf Dauer eingerichtet?

Abgesehen von den Behandlungs- und Nachsorgezeiten im Krankenhaus hing die Kontinuität ihres Pflegeprozesses allein von ihrem Willen und Gesundheitszustand ab. Selbst nach mehreren Versuchen meinerseits, auf die Steigerung ihres Konsums und die Verschlechterung ihres Gesundheitszustands hinzuweisen, wurde ich nie über den Fortschritt der Behandlung und die damit verbundenen Risiken informiert.

Im Nachhinein erfuhr ich, daß meine Frau mit mehr als 2 g Alkohol im Blut in die Tagesklinik kam. Das Personal ließ sie ruhen, ohne sie in die Aktivitäten einzubeziehen, und setzte sie dann vor unserem Haus ab, ohne mich über diese Situation zu informieren. Diese Fakten sind in der Akte festgehalten. Sie ereigneten sich nach mehreren lebensbedrohlichen Notfällen für meine Frau, darunter ein nachgewiesener Selbstmordversuch.

Wurde ihr psychologische Unterstützung angeboten?

Nur während der Behandlung und Nachsorge sowie in der ambulanten Pflege wurde sie von Psychologen und Krankenschwestern begleitet. Sie versuchte auch, der EMDR-Behandlung nebenan zu folgen, die durch einen Rückfall unterbrochen wurde. Meine Frau traf die Wahl für mehrere Monate und bis zu ihrem Tod an den Treffen der lokalen Gruppe der Anonymen Alkoholiker teilzunehmen. Peer-Helfer sind eine echte Unterstützung im Pflegeprozess.

Wurde Ihnen und Ihren Söhnen psychologische Unterstützung angeboten?

Nein, nicht als Teil des Behandlungsprozesses meiner Frau, auf dieser Ebene hörte die Orientierung bei folgenden Hinweisen auf:

  • Sie können nichts dafür
  • Sie sind nicht der Betreuer Ihrer Frau
  • Schützen Sie sich selbst
  • Schützen Sie Ihre Kinder
  • Leben Sie normal weiter
  • Verwandlen Sie ihre Kinder nicht in Aufpasser

Wie haben Sie eine Art Familienzusammengehörigkeit während der Krankheit Ihrer Frau erhalten?

Ich habe nie an unserer gegenseitigen Liebe gezweifelt und unsere Kinder wussten das auch. Es ist die Widerstandsfähigkeit unserer gegenseitigen Bindungen, die es uns erlaubt hat, eine Familie zu bleiben. Ihr Willen, so lange wie möglich zu kämpfen und sich um uns zu kümmern, hat es uns ermöglicht, immer den Unterschied zwischen ihrer Krankheit, ihrem Suchtverhalten und der liebenden Frau und Mutter zu machen, die sie immer war.

Sie erklären in Ihrem Blog, daß Fachkräfte des Gesundheitswesens nicht immer nachsichtig mit den Angehörigen sind. Fühlten Sie sich ins Abseits gedrängt?

Das ist kein Gefühl, sondern eine verbreitete Realität. Die Familie und Freunde werden von den Pflegeprozessen der psychiatrischen Einrichtungen ferngehalten.

Der Mangel an systemischer Kommunikation zwischen Ärzten und Ehepartnern ist durch die ärztliche Schweigepflicht und die Notwendigkeit des Schutzes des "Artz-Patienten-Verhältnisses" gerechtfertigt, das zwischen einem Arzt und seinem Patienten eingerichtet werden muss. Ich wurde ferngehalten wie ein schädliches Umfeld, die den therapeutischen Prozess behindert. Mir wurde keine Diagnose mitgeteilt, weder ihre Behandlung noch die Entwicklung ihrer Krankheit.... Niemand berücksichtigte meine Beiträge und meinen Wunsch, Pflegekraft zu werden. Ich kümmerte mich allein um ihre Krankenhausaufenthalte, ihr Austreten aus dem Berufsleben und ich war es auch, der ihr das Fahren verbot.

Mir zu sagen, daß ich kein Betreuer war, und mich allein die Verantwortung von Zwang und Systemfehlern tragen zu lassen, ist eine vom Gesundheitssystem übernommene Heuchelei.

Wie könnte die Integration von Familienangehörigen in den Pflegeprozess verbessert werden?

Es ist in erster Linie die Kontinuität und Sicherheit der Versorgungswege, die verbessert werden müssen. Die Realität der Praxen sind Episoden einer diskontinuierlichen Betreuung ohne wirkliche Koordination zwischen den Strukturen (behandelnder Arzt, Psychiater, Süchtige, Postkurszentren....).  Informieren, trainieren, begleiten, unterstützen, die Angehörigen unterstützen, sie zu einem Mitwirkenden im Pflegeprozess und nicht mehr zu einem impotenten Zuschauer zu machen. Dies ist unerlässlich, um die Leistung der ambulanten Versorgung wirklich zu sichern und zu verbessern, dieser Pflege, die in unseren Lebensweg eingebettet ist und sich derzeit entwickelt. Diese Organisation hat einen Namen: die therapeutische Allianz und diese Allianz muß das Umfeld als wesentlichen Mitwirkenden in den Pflegeprozess integrieren.

Darüber hinaus ist das Versorgungsangebot in den Bereichen Systemische Therapie, Paartherapie und Familientherapie in Frankreich heute noch völlig unzureichend. Immer mehr Strukturen bewähren sich jedoch in der Patientenversorgung und verbessern das Schicksal der Familien.

Was war der schwierigste Teil in der Begleitung Ihrer Frau in ihrem Kampf?

Was mich am intimsten berührte war, die Frau, die ich liebte leiden und diese Krankheit bekämpfen zu sehen, ohne das sie es schaffte. Zu sehen, wie es ihr besser ging und sie dann unverständlicherweise einen Rückfall erlitt. Sich der Verschlimmerung, des Risikos für ihr Leben und der neurologischen Schäden bewusst werden. Plötzlich aufzuwachen, alarmiert durch ihre Atmung, festszutellen, daß sie nicht mehr reagiert und den Notarzt anzurufen. Und das alles in der tödlichen Stille der medizinischen Fachleute.

Das Umfeld der Alkoholiker wird ohne Unterschied als mitabhängig, mitalkoholisch, unveränderlich und mitschuldig betrachtet, wenn versucht wird zu helfen. Dieses Image und dieser Satz "Sie können nichts dagegen tun, Sie sind kein Betreuer" lähmt die Angehörigen und verbreitet Scham und Schuld. Dieser Wächtersatz: "Wenn Alkohol auftaucht, bedeutet das in der Regel das Ende der Beziehung " beschreibt den vorformatierten Verlauf unserer Strecke. Uns ins Abseits zu stellen ist so viel einfacher, als daran zu arbeiten, uns zu effektiven Partnern zu machen. Das behindert die Heilung der Kranken und ist eine schreckliche Verschwendung.

In Ihrem Blog sprechen Sie von Depressionen und Alkoholismus als "stille und versteckte" Krankheiten.

Das aktuelle Bild von Alkoholismus und Depressionen trägt zur Stigmatisierung und Isolation von Patienten und ihren Familien bei. Die einfache Google-Suche "alkoholische Familie" liefert mehr als 1600 Ergebnisse. Anstatt uns bestenfalls als Opfer oder schlimmstenfalls als Mittäter zu bezeichnen und zu schweigen, sollte man diese Krankheiten offen behandeln. Es ist wichtig, allen Mitwirkenden im Pflegeprozess ein klares Verständnis der Gesundheitsvorsorge zu vermitteln. Die Strukturen sind vorhanden, die Familie und Freunde müssen so schnell wie möglich erfahren, an wen sie sich für Unterstützung wenden können. 

Welchen Rat würden Sie einem Angehörigen geben, der gerade eine depressive oder alkoholkranke Person begleitet?

Nicht allein zu bleiben, sich an die Einrichtungen zu wenden, um mit Psychologen, Ärzte oder Krankenschwestern auszutauschen. Gesprächsgruppen für Familie und Anehörige gibt es in Peer-Helfer-Vereinen. Dieser Maßnahmen helfen, die Person mit einem Alkoholproblem darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig ihre Gesundheit und ihr Verhalten für ihr Umfeld sind. Dies kann den Patienten ermutigen, sich beraten zu lassen oder sich mit Peer-Helfern zu treffen. Man sollte alle Anstrengungen unternehmen, um sich mit Ärzten oder Pflegepersonal auszutauschen.

Ihre Frau ist leider gestorben. Warum haben Sie sich entschieden, den Kampf über Ihren Blog fortzusetzen? Können Sie uns mehr darüber erzählen?

Mein Vorgehen basiert auf der Pflicht zur Erinnerung, dem Überlebensinstinkt, dem Trauerprozess und der Notwendigkeit, unseren Kampf gegen die Krankheit fortzusetzen.

Ich nehme an Gesprächsgruppen teil und stehe in Kontakt mit Verbänden. Mir wurde die Rolle des hilfsbereiten Begleiters verweigert, ich hoffe, die Rolle eines "Begleiters auf der Spur" zu übernehmen, um meine Geschichte den Fachleuten des Gesundheitswesens zu erzählen und die Pflege zu verbessern.

Ein Wort zum Abschluß?

Ich war der natürliche Betreuer meiner Frau, die sehr schwer krank war und tat alles, was ich konnte, um das bekannt zu machen. Unabhängig von dem Namen und der Art ihrer Krankheit hatte ich das Recht, wie jeder andere Betreuer auch, Unterstützung, Begleitung, aufrichtige Information und Pflege zu erwarten. Unter diesen Bedingungen ist es Missbrauch, ferngehalten zu werden. Ich möchte es nur bekannt geben und anerkennen, um zu verhindern, daß anderen Menschen diese Möglichkeiten verweigert werden.

 

Herzlichen Dank Yves, daß Sie sich die Zeit für dieses Interview genommen haben. Wir wünschen Ihnen alles Gute für die Zukunft und Ihren Kampf gegeb Alkoholabhängigkeit.

avatar Louise Bollecker

Autor: Louise Bollecker, Community Manager Frankreich

Louise ist Community Managerin von Carenity in Frankreich und Chefredakteurin des Gesundheitsmagazins. Sie bietet allen Mitgliedern Artikel, Videos und Erfahrungsberichte. Ihr Ziel ist es, die Stimme der Patienten zu... >> Mehr erfahren

2 Kommentare


Tilldinkel
am 30.04.19

 Hallo, ich bin seit 1979 trocken. Es wae eine schlimme zeit. Meine mutter und großmutter haben immer zu mir gehalten. Ich habe 1981 meinen lieben mann kennengelernt. Durch viele gespräche, die sehr wichtig sind, habe ich dieser sucht begegnen können. Es ist für mich wichtig anderen betroffenen zu helfen. Tilldinkel


Annatoula
am 09.05.19

Hallo, die Mutter meiner besten Freundin leidet an Depressionen und Alkohol Sucht . Meine Freundin unterstützt ihre Mutter und ist für sie da . Mittlerweile leidet sie stark unter den ständigen Abstürzen ihrer Mutter. Ihr Mann und ihre Tochter leiden auch meine Freundin ist berufstätig und kümmert sich um die Mutter da bleibt weniger Zeit für Ihre Familie. Sie hat ständig ein schlechtes Gewissen. Letztes Jahr hatte sie einen Zusammenbruch seitdem besucht sie eine Selbsthilfe Gruppe für Angehörige seit dem geht es ihr besser. Die Krankheit verlangt viel von den Angehörigen. Hut ab vor jedem der da durch hält , Lg Annatoula 

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